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Der erste Bär erschien hinter der Bank. Der zweite tauchte aus den Bäumen auf der anderen Straßenseite auf. Evelyn hatte kaum Zeit, aufzustehen, bevor sie merkte, dass sie zwischen den beiden gefangen war – zwei riesige Gestalten, die wie Raubtiere um sie herumkreisten. Die Menschen in der Nähe schrien. Sie bewegte sich nicht. Sie konnte es nicht. Ihre Beine weigerten sich, zu funktionieren.

Die Luft fühlte sich falsch an – dick und gefroren. Die Bären stürzten sich nicht auf sie, aber ihre langsamen, bedächtigen Bewegungen waren schlimmer. Gemessen. Absichtlich. Als ob sie mit ihr spielen würden. Evelyns Herzschlag pochte in ihren Ohren, während ihr Verstand nach Möglichkeiten suchte. Es gab keine. Niemand kam, um zu helfen. Keiner wagte es.

Sie drehte sich um, um wegzulaufen, aber der größere Bär bewegte sich plötzlich und versperrte ihr mit erschreckender Präzision den Weg. Die Luft verließ ihre Lunge. Seine dunklen Augen fixierten die ihren, ohne zu blinzeln. Der kleinere Bär schlich sich von hinten an und schnitt ihr den letzten Ausweg ab. So wird es enden, dachte sie. Ich komme hier nicht mehr raus.

Evelyn wachte auf, als ihr Wecker schrillte, das vertraute Summen, das den Beginn eines weiteren gewöhnlichen Tages markierte. Sie streckte sich, während das Licht des frühen Morgens durch ihr Schlafzimmerfenster strömte und weiche Schatten auf die Wände warf.

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Die kleine Wohnung, in der sie lebte, fühlte sich gemütlich, aber auch beengt an, ein Raum, mit dem sie in der Routine ihres Lebens umzugehen gelernt hatte. Sie warf einen Blick auf die Uhr und stöhnte auf. Es war später, als sie gedacht hatte. Sie musste den Bus erwischen. Mit einem schnellen Schlurfen zog Evelyn ihre Jacke an, schnappte sich ihre Tasche und trat aus ihrer Wohnung.

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In der Luft lag der schwache Duft des Herbstes, und die Straßen waren bereits von der Hektik des Stadtlebens erfüllt. Das übliche Brummen der Autos, das gelegentliche Rufen eines Verkäufers und das Geräusch eilender Schritte gaben den Ton für den bevorstehenden Tag an.

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Ihre Gedanken wanderten zu den Besorgungen, die sie erledigen musste. Ein Zwischenstopp in der Bibliothek, ein paar Lebensmitteleinkäufe, vielleicht sogar ein kurzer Besuch in dem Café, in dem sie gerne ihren Morgenkaffee trank. Nichts Außergewöhnliches. Es war ein ganz normaler Tag.

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Sie kam rechtzeitig am Busbahnhof an und suchte sich einen Platz auf einer der Bänke. Die Leute wuselten herum, einige warteten auf ihre Busse, andere waren in ihre Telefone vertieft oder lasen Zeitung. Die leicht kühle Luft veranlasste Evelyn, ihre Jacke fester um die Schultern zu ziehen, aber es gab kein Gefühl der Dringlichkeit – alles war so, wie es sein sollte.

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Sie lehnte sich zurück und zückte ihr Handy, um ihre Nachrichten zu überprüfen. Eine SMS von ihrer Freundin Sara tauchte auf, in der sie fragte, ob sie heute Abend immer noch zum Essen verabredet waren. Evelyn lächelte. Es war das übliche Hin und Her, nichts Ungewöhnliches. Sie antwortete mit einem schnellen “Ja, bis später!” und steckte ihr Handy weg, um zufrieden auf den Bus zu warten.

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Das rhythmische Geräusch von Busmotoren in der Ferne erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie stand auf, packte ihre Sachen zusammen und war bereit, den nächsten Teil des Tages zu beginnen. Sie erwartete nicht viel mehr Aufregung, schließlich war es nur eine weitere Fahrt zum Busbahnhof, nur ein weiterer Tag. Die Welt schien unverändert.

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Und dann geschah es. Ein plötzliches Rascheln in den Bäumen in der Nähe erregte ihre Aufmerksamkeit. Evelyn blickte auf und erwartete, einen Hund oder vielleicht ein kleines Tier durch das Unterholz huschen zu sehen. Doch was sie stattdessen sah, ließ sie erstarren. Zwischen den Bäumen, am Rande des Waldes, kamen zwei riesige Bären hervor.

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Der eine war größer, sein Fell dunkel und glänzend, während der andere, ein kleineres Weibchen, ein helleres braunes Fell hatte. Sie gingen langsam, fast zielstrebig, als ob sie einen Grund hätten, hier zu sein. Das Geräusch ihrer massigen Pfoten auf dem Boden war seltsam rhythmisch, fast so, als wären sie im Gleichschritt.

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Evelyns Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie erstarrte, jeder Muskel in ihrem Körper spannte sich an. Der anfängliche Schock, so große, wilde Tiere so nah an der Bushaltestelle zu sehen, ließ sie wie gelähmt zurück. Damit hatte sie nicht gerechnet.

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Als der größere Bär sie bemerkte, hielt er mitten im Schritt inne. Sein Blick blieb an ihrem hängen, intensiv und wissend. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben. Der Busbahnhof, der Lärm, die Menschen – alles verblasste und ließ nur sie und die beiden Bären zurück.

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Die Welt schien in diesem einen Moment zu schrumpfen. Der kleinere Bär verlagerte sein Gewicht, dann machte er einen Schritt nach vorn und sah zwischen Evelyn und dem größeren Bären hin und her. Evelyns Atem beschleunigte sich, als sie instinktiv einen Schritt zurücktrat und ihre Hand wieder nach ihrem Handy griff, obwohl sie keine Ahnung hatte, was sie damit tun sollte.

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Aber die Bären bewegten sich nicht näher. Sie standen einfach nur da und beobachteten sie. Sie war sich nicht sicher, ob sie weglaufen oder bleiben sollte, aber irgendetwas in der Art, wie sie sie ansahen – irgendetwas in der Ruhe und Stille des Augenblicks – hielt sie auf ihrem Platz. Der größere Bär begann sich wieder zu bewegen, aber dieses Mal zog er sich nicht einfach zurück.

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Er begann, sie langsam und bedächtig zu umkreisen, während der kleinere Bär seine Bewegungen wiederholte. Evelyn spürte, wie ihr Herz schneller schlug, als sie sie sanft trieben, nicht aggressiv, aber mit klarer Absicht. Jedes Mal, wenn sie ihre Position änderte, reagierten die Bären und versperrten ihr auf subtile Weise den Weg.

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Das Gefühl war unverkennbar: Sie führten sie irgendwohin, drängten sie in eine Richtung, die sie nicht ganz verstehen konnte. Instinktiv wich Evelyn einen Schritt von den angreifenden Tieren zurück, ihr Körper drängte sie, sich wieder in Richtung Bahnhof zu bewegen. Doch der größere Bär, der ihr nun den Weg versperrte, stieß ein tiefes Knurren aus.

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Ein tiefes, grollendes Geräusch, das in ihrer Brust vibrierte. Das Knurren war nicht laut, aber es reichte aus, um sie auf der Stelle zu stoppen, eine Kraft, die ihr klar machte, dass sie nicht entkommen durfte. Sie erstarrte, ihre Beine waren steif, als das Knurren in der Luft lag.

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Der kleinere Bär blickte zu ihr auf, dann wieder zu dem größeren, sein Blick war auf Evelyn gerichtet, als warte er darauf, dass sie eine Entscheidung traf, die sie nicht verstand. Ihre Kehle schnürte sich zu. Warum passiert das alles? Warum ich? dachte sie. Warum wurde ausgerechnet sie an dieser Bushaltestelle in die Enge getrieben?

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Sie machte einen wackeligen Schritt nach vorne. Das Knurren des größeren Bären verstummte augenblicklich, wie eine Prüfung, die sie unwissentlich bestanden hatte. Aber das brachte keinen Trost. Die Erkenntnis traf sie hart – sie wollten sie im Wald haben. Und sie war auf dem Weg dorthin. Auf ihren eigenen zwei Füßen.

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Jeder Schritt fühlte sich schwerer an als der letzte. Der kleinere Bär verweilte jetzt hinter ihr und hielt sie in Schach. Die Geräusche der Stadt wurden leiser, bis es nur noch Bäume vor und Stille hinter ihr gab. Panik kroch ihr den Rücken hinauf. Wo bringen sie mich hin? dachte sie. Was, wenn ich nie wieder herauskomme?

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Ein letztes Mal warf sie einen Blick zurück zum Busbahnhof, und die Normalität der Welt außerhalb des Waldes schien bereits eine ferne Erinnerung zu sein. Die Bären setzten ihren gemütlichen Gang fort, und Evelyn ertappte sich dabei, wie sie ihnen Schritt für Schritt tiefer in den Wald folgte. Der Wald verschluckte sie ganz. Mit jedem Schritt wurde das ferne Geräusch der Stadt leiser, bis es schließlich ganz verschwand.

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Evelyns Turnschuhe knirschten leise über heruntergefallene Zweige und trockenes Laub, das einzige andere Geräusch waren die gemessenen Schritte der beiden Bären vor ihr. Sie gingen mit einer seltsamen Bedächtigkeit – weder langsam noch eilig – und warfen immer wieder einen Blick zurück, um sicherzustellen, dass sie Schritt hielt. Der Weg war nicht klar. Keine Spur markierte ihren Weg.

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Äste zerrten an ihren Ärmeln, und Dornen kratzten an ihren Beinen. Dennoch ging Evelyn weiter und schob sie beiseite, als ihre Neugierde ihre Angst zu überwiegen begann. Das Ganze hatte etwas Surreales an sich – etwas, das ihr das Gefühl gab, in einen Traum geraten zu sein, aus dem sie nicht ganz erwachen konnte.

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Sie ertappte sich dabei, dass sie laut sprach, mehr um sich zu erden als um gehört zu werden. “Okay … das ist verrückt. Ich folge zwei Bären in einen Wald. Das ist normal. Völlig in Ordnung.” Ihre Stimme fühlte sich dünn an in der Stille. Der größere Bär hielt einen Moment inne und blickte sie mit etwas an, das fast wie ein Wiedererkennen aussah.

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Die Zeit war schwer zu verfolgen. Sie war sich nicht sicher, wie lange sie schon gelaufen waren. Die Sonne war noch aufgegangen und ihre Strahlen brachen in langen goldenen Streifen durch die Bäume. Doch je tiefer sie kamen, desto dichter wurde der Wald, und das Licht begann zu schwinden. An einem Punkt wurde Evelyn langsamer, ihre Beine schmerzten und ihre Lungen brannten.

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Das Gelände veränderte sich unmerklich, hob und senkte sich unter ihren Füßen. Sie stolperte ein paar Mal und klammerte sich an tief hängende Äste, um sich abzustützen. Die Bären hielten nie an, um zu warten, aber sie ließen sie auch nicht zurück. Ihr Tempo war anspruchsvoll, zielstrebig. Und doch… schienen sie sich nicht verirrt zu haben. Dieser Gedanke ließ sie erschaudern. Sie wussten genau, wohin sie gingen.

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Nach einer weiteren Weile des Schweigens fasste Evelyn den Mut, wieder zu sprechen – diesmal zu den Bären. “Wohin bringt ihr mich?”, fragte sie leise, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Natürlich erwartete sie keine Antwort. Aber der kleinere Bär hielt – fast als Antwort – inne, drehte den Kopf leicht und gab ein leises Grunzen von sich, bevor er weiterging.

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Evelyn sah sich um. In jeder Richtung ragten Bäume auf, und der Pfad hinter ihr war bereits verschwunden. Sie hatte keine Ahnung, wie sie zum Busbahnhof zurückkehren konnte, keine klare Richtung nach Hause. Ihre einzige Wahl war jetzt vorwärts. Sie holte tief Luft und ging weiter. Der Wald wurde dichter, je weiter sie kamen, die Bäume wurden älter, ihre Stämme knorrig und breit wie uralte Wächter.

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Moos klebte an allem. Das Licht, das durch die Baumkronen sickerte, hatte sich zu einem gedämpften grünen Schein verdunkelt und verlieh der Welt um Evelyn eine stille, fast heilige Qualität. Die Luft roch nach feuchter Erde und Kiefern. Die Bären blieben in ihrem langsamen, bedächtigen Tempo. Hin und wieder warfen sie einen Blick zurück – vor allem der kleinere, der wachsamer zu sein schien.

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Evelyn ging hinterher, duckte sich unter niedrigen Ästen, schlängelte sich durch dichtes Unterholz, und jeder Schritt führte sie tiefer in den Wald hinein. Irgendwann wusste sie nicht mehr, wie lange sie schon gelaufen waren. Der Busbahnhof kam ihr jetzt wie ein Traum vor, weit weg und unwirklich.

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Sie blickte sich um und stellte mit einem Ruck fest, dass es keine Wege mehr gab – keine Anzeichen von Menschen, keine Geräusche von Autos oder Stimmen. Nur Wildnis in jeder Richtung. Ihr Atem ging stoßweise. Sie war meilenweit von allem entfernt. Ohne Handysignal. Keiner wusste, wo sie war. Und sie verfolgte zwei Bären. Was tat sie da eigentlich?

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Ein plötzlicher, erschreckender Gedanke kam ihr: Ich könnte weglaufen. Aber die Idee nahm kaum Gestalt an, bevor sie sie wieder verwarf. Sie konnte nicht vor einem Bären fliehen – geschweige denn vor zwei. Und wenn sie ihr etwas hätten antun wollen, hätten sie es längst getan. Oder? Trotzdem kroch die Angst in sie hinein, langsam und erstickend. Was, wenn es so enden würde? Was, wenn sie ihr Verhalten völlig falsch eingeschätzt hatte?

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Vielleicht führten sie sie gar nicht irgendwohin – vielleicht brachten sie sie nur weit genug weg, damit niemand ihre Schreie hören würde. Dann blieben sie stehen. Alle beide. Evelyn erstarrte, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Die Bären standen regungslos vor ihr, die Körper still, die Augen unleserlich. Der größere der beiden Bären bewegte sich leicht, drehte sich mit seiner Masse ganz leicht zu ihr hin.

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Der kleinere Bär blieb wie angewurzelt stehen, die Ohren zuckten. Das war’s, dachte Evelyn. Sie haben mich hierher gebracht, um zu sterben. Sie bewegte sich nicht. Konnte sich nicht bewegen. Ihre Brust spannte sich an, ihr Puls hämmerte gegen ihre Rippen. Dann drehte der größere Bär seinen Kopf scharf nach links, senkte die Nase und schnupperte die Luft. Die Spannung in seiner Körperhaltung veränderte sich. Fokussiert. Entschlossen.

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Evelyn folgte seinem Blick. Sie trat vor und tastete vorsichtig den Boden ab. Zuerst sah sie nichts – nur dichtes Gestrüpp und verknotete Wurzeln. Doch dann blieb sie an einem Ast hängen und entdeckte ein zerrissenes Stück Stoff. Verblichenes Blau, wie Jeansstoff. Gleich dahinter ein Schuh, schlammverschmiert und seltsam positioniert, als hätte man ihn in der Eile weggeworfen oder verloren.

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Evelyn trat vor und kauerte sich daneben. Die Bären blieben ruhig hinter ihr stehen, mischten sich nicht ein, beobachteten aber genau. Es war unverkennbar ein Männerschuh. Robust, naturbelassen. Daneben, teilweise unter Tannennadeln begraben, lag ein zerknülltes Energieriegelpapier. Der Wald hatte begonnen, ihn zurückzuerobern, aber er lag noch nicht lange hier.

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Jemand war hier gewesen. Vor kurzem. Evelyn erhob sich langsam und schaute zu den Bären hinüber. “Ist es das, was ich finden sollte?” Der kleinere Bär gab ein leises Grunzen von sich. Sie bewegten sich wieder. Sie folgte ihnen. Schon bald begann sich der Wald erneut zu verändern – unmerklich, aber unübersehbar. Die Bäume wurden lichter, und die Luft wurde kälter. Die Stille vertiefte sich.

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Sogar das Vogelgezwitscher, das zuvor noch leise geklungen hatte, war verschwunden. Evelyn spürte es wie einen Druck in ihrer Brust: Etwas war nahe. Plötzlich blieben die Bären wieder stehen. Diesmal traten sie auseinander, um ihr den Weg nach vorne freizumachen. Die Geste war wohlüberlegt. Evelyn wurde langsamer, tastete den Waldboden ab, unsicher, was sie sehen sollte – bis sich die Gestalt offenbarte. Eine Lichtung.

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In ihrer Mitte standen die Überreste eines Lagerplatzes. Ein zusammengebrochenes Zelt, ausgefranste Seile, geschwärztes Feuerholz. Das Feuer war schon lange erloschen, aber es gab keinen Zweifel daran, was dieser Ort war. Jemand hatte hier gelebt. Alleine. Evelyn trat näher heran, ihre Stiefel knirschten über Blätter und verstreuten Schutt. Ein verrosteter Topf. Ein Rucksack, der an der Seite zerrissen war.

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Ein Fernglas, das noch an seinem Riemen an einem Ast hing. Der Lagerplatz sah verlassen aus – aber nicht vergessen. Er sah zurückgelassen aus. Evelyn schritt vorsichtig durch die Überreste des Lagers, die Bären hielten sich wie stumme Wächter an der Baumgrenze zurück. Der Boden unter ihren Füßen war uneben, übersät mit Tannennadeln und umgestürzter Erde.

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Alles sah verwüstet aus – wer auch immer hier gewesen war, hatte es eilig gehabt, oder schlimmer noch, er war nicht freiwillig gegangen. Sie hockte sich neben das zusammengebrochene Zelt und strich eine feuchte Plane beiseite. Darin befanden sich die verstreuten Überreste des Lebens von jemandem: eine Taschenlampe, tot und verrostet, ein zerfleddertes, vom Regen halb durchnässtes Tagebuch und ein gefaltetes Flanellhemd, das sorgfältig über einen zusammengerollten Schlafsack gelegt war.

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Es sah aus, als hätte man es mitten beim Packen liegen lassen. Sie griff hinein und zerrte das Tagebuch heraus. Der Ledereinband war weich und rissig, die Ecken waren von Feuchtigkeit und Gebrauch geknickt. Was ihr am meisten auffiel, war das kleine Bild, das in den Einband gepresst war – das handgeätzte Motiv eines Bären, umgeben von Zweigen.

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Es war unaufdringlich, aber gewollt. Evelyn öffnete es langsam. Die ersten paar Seiten waren noch intakt. Eine saubere Handschrift füllte die Zeilen, datiert auf ein paar Wochen zurück. Der Schreiber – der nie mit seinem Namen unterschrieb – war hierher gekommen, um die Tierwelt zu beobachten. Er schrieb über lange Tage, an denen er von Jalousien aus beobachtete, über Schwarzbären, die in der Nähe des Flusses auf Nahrungssuche waren, und über den Kitzel der Stille.

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Sie blätterte vor, und ihr Atem stockte. Da waren Skizzen. Seiten voller Skizzen. Bären, die sich unter Bäumen räkeln, Jungtiere, die sich gegenseitig jagen, ein großes Männchen, das einen Bach überquert. Die Zeichnungen waren detailliert, sorgfältig, sogar liebevoll. Das war nicht nur ein Hobbyist. Diese Person hatte sie genau studiert. Hat mit ihnen gelebt. Und dann änderte sich der Tonfall.

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Ein späterer Eintrag lautete: “Habe ihn wieder gesehen. Weißes Fell, unverkennbar. Kein Albino – etwas anderes. Kleiner als die anderen. Es ließ mich heute näher heran. Ich habe mich nicht bewegt. Ich habe kaum geatmet.” Evelyn hielt inne. Weißes Fell? Sie blätterte die Seite um. “Es ist echt. Ich bilde es mir nicht ein. Die Mutter hat es versteckt gehalten. Aber sie hat es mich sehen lassen. Ich glaube… sie weiß, dass ich nicht hier bin, um ihnen wehzutun.

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Das könnte es sein. Die eine Sache, die niemand sonst eingefangen hat. Wenn ich das auf Film bannen kann…” Der Eintrag stoppte an dieser Stelle und endete abrupt in der Mitte des Satzes. Evelyn blickte von ihrem Tagebuch auf, und in ihrem Kopf drehte sich alles. Die Mutter? Weißes Fell? Und plötzlich verstand sie. Ihr Blick richtete sich langsam auf die Bären am Rande der Lichtung. Sie hatten sie nicht nur zufällig geführt.

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Sie führten sie hierher. Zu diesem Ort. Zu ihm. Der größere Bär saß regungslos da und beobachtete sie mit unleserlichen Augen. Die kleinere, jetzt eindeutig die Mutter, trat einen Schritt vor, ihr Blick wanderte von Evelyn zum Lager und wieder zurück. Sie stieß ein leises, fast schmerzhaftes Schnaufen aus. Evelyn erhob sich mit klopfendem Herzen.

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Hier war etwas geschehen. Etwas Wichtiges. Und die Bären wollten, dass sie es sah. Evelyn setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm neben dem Zelt, das aufgeschlagene Tagebuch auf ihrem Schoß liegend. Die Seiten, die vor ihr lagen, schienen dunkler zu sein – nicht nur im Inhalt, sondern auch im Ton. Die einst so ordentliche Handschrift war unordentlicher geworden, die Linien schräg, die Wörter durchgestrichen und neu geschrieben.

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Die ruhige Faszination des Schriftstellers hatte begonnen, sich in etwas Verzweifeltes zu verwandeln. “Die Mutter ist schlau. Sie versteckt das Jungtier die meisten Tage. Aber ich habe jetzt ihr Territorium kartiert. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.” Die nächste Seite war mit Skizzen gefüllt – gröberen, in Eile angefertigten. Eine zeigte ein weißpelziges Jungtier, das sich neben einem viel größeren Bären zusammengerollt hatte.

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Eine andere zeigte ein Diagramm des Waldes, mit roten Kreisen um vermutete Bärenhöhlen, Futterstellen und Wanderwege. Evelyns Magen zog sich zusammen. “Sie verstehen das nicht. Es geht nicht darum, sie zu verletzen. Es geht um das Vermächtnis. Wenn ich das einfange – mit der Kamera, auf Film – dann ändert das alles.” Sie blätterte weiter. “Ich habe die erste Anlage in der Nähe der Lichtung aufgestellt. Der Bewegungsmelder funktioniert.

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Ich habe ein paar gute Aufnahmen von der Sau allein. Das Jungtier ist etwas vorsichtiger. Aber ich werde es erwischen. Früher oder später wird es ins Bild kommen.” Evelyn blickte scharf auf. Die Lichtung. War sie in der Nähe? Konnte die Kamera noch dort sein? Die nächsten Seiten beantworteten diese Frage. Detaillierte Listen der Ausrüstung. Hinweise zur Platzierung. GPS-Koordinaten. Sogar Skizzen von Fallen – nichts zu hartes, behauptete er am Rande.

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Human. Vorübergehend. Gerade genug, um sie einzudämmen. Zum Einfangen. Um zu beweisen. Aber als sie weiterlas, veränderte sich wieder etwas. Die Einträge nahmen einen Hauch von Verzweiflung an. “Sie meidet die Kameras. Sie weiß es. Sie hat das Jungtier wieder verlegt. Aber ich werde sie finden. Ich habe einen Köder an der südlichen Schlucht ausgelegt. Ich brauche nur einen sauberen Schuss.”

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Evelyns Haut kribbelte. Das war keine Forschung mehr. Das war Verfolgung. Besessenheit. Die Grenze zwischen Studium und Besessenheit war fließend geworden – vielleicht war sie sogar ganz verschwunden. Sie blätterte zu den letzten Einträgen. Einer war erst vor ein paar Tagen datiert. “Habe sie wiedergesehen. Sie starrte mich an. Als ob sie mich warnen würde. Oder flehend. Ich konnte es nicht erkennen. Aber der Junge war bei ihr.”

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“Näher als zuvor. Ich glaube, sie lässt nach. Sie wird müde. Ich werde es heute Abend noch einmal versuchen.” Die allerletzte Seite war leer, abgesehen von einem Fleck aus Schmutz oder getrocknetem Blut in der unteren Ecke. Evelyn klappte das Tagebuch zu. Langsam sah sie auf – und entdeckte die Bärenmutter, die sie von der anderen Seite der Lichtung aus beobachtete.

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Nicht mit Feindseligkeit, sondern mit etwas, das eher an Erschöpfung erinnerte. Unter ihr war die Erde aufgewühlt. Zertrampelt. Als ob dort einmal jemand gestanden hatte… und vertrieben worden war. Der größere Bär brummte und begann, unruhig in der Baumreihe umherzuwandern. Die Botschaft war klar. Es gab mehr zu finden. Mehr zu verstehen. Und sie brauchten ihre Hilfe.

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Evelyn bewegte sich nun zügig und folgte den Notizen und Koordinaten, die sie sich aus dem Tagebuch gemerkt hatte. Das Gelände fiel ab, und die Luft wurde kälter und dichter, als würde der Wald selbst den Atem anhalten. Hinter ihr waren die beiden Bären an der Baumgrenze stehen geblieben. Die Bärenmutter stieß ein leises, verhaltenes Brummen aus, machte aber keine Anstalten, ihr zu folgen.

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Evelyn warf einen Blick zurück. “Es ist in Ordnung”, flüsterte sie, als wolle sie sie – oder sich selbst – beruhigen. “Ich gehe.” Sie drängte vorwärts. Zweige peitschten an ihren Armen, der Geruch von feuchter Erde stieg ihr in die Nase. Dann, gerade als sie eine felsige Senke in der Nähe eines trockenen Bachbettes erreichte, hörte sie es. Ein Geräusch, so klein und zerbrechlich, dass man es zuerst für Wind hätte halten können.

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Aber es war nicht der Wind. Es war ein Wimmern. Sie erstarrte. Dann kam es wieder – diesmal deutlicher. Ein hoher, zitternder Schrei. Nicht menschlich. Kein Vogel. Ein Geräusch, geboren aus Schmerz, Angst und Gefangenschaft. Sie kroch mit klopfendem Herzen darauf zu. Und da war es. Das Jungtier. Ein kleiner Bär mit cremeweißem Fell hatte sich in einer Netzfalle verfangen, die zwischen zwei niedrigen Bäumen in den Boden gesteckt worden war.

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Seine Augen waren weit aufgerissen und verängstigt, seine Pfoten zerkratzt von dem Versuch, sich durch das Netz zu krallen. Es stieß einen weiteren unterbrochenen Schrei aus, als Evelyn sich näherte und vor Panik zusammenzuckte. “Oh nein”, keuchte sie. “Du armes Ding…” Sie sank auf die Knie und versuchte fieberhaft, das Netz zu lösen. Der Knoten saß fest und war um verdrehten Draht und Pfähle gewickelt.

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Ihre Finger arbeiteten fieberhaft, zerrten, entwirrten. “Ich habe dich”, flüsterte sie. “Du wirst wieder gesund. Ich verspreche es.” Dann – eine Stimme. “Na, sieh mal einer an.” Evelyn erstarrte. Die Stimme kam von hinter ihr. Kalt. Zuversichtlich. Sie drehte sich langsam um. Ein Mann trat aus den Bäumen hervor, unrasiert, sonnenverbrannt und mit einem Jagdmesser am Gürtel.

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Sein Gesicht war unverkennbar – sie hatte Skizzen von ihm am Rande des Tagebuchs gesehen. Dies war der Schriftsteller. Der Wilderer. Er starrte sie an, als wüsste er bereits, wer sie war. “Du bist nicht von hier”, sagte er beiläufig und blickte auf das Junge hinunter. “Eine Schande, wirklich. Du hast eine sehr wertvolle Gelegenheit verpasst.”

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Evelyn erhob sich und stellte sich zwischen den Mann und das Jungtier. “Sie sind derjenige, der ihnen nachgestellt hat.” Er grinste. “Verfolgen? Das ist ein starkes Wort. Ich bevorzuge dokumentieren.” Er trat näher heran. “Haben Sie eine Ahnung, was so ein Weißpelzjunges wert ist? Es ist eine genetische Anomalie. Verdammt selten. Für so etwas würden Sammler töten.”

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Evelyns Herz pochte in ihrer Brust. “Das kann nicht Ihr Ernst sein.” “Ich meine es sehr ernst. Und du … du stehst im Weg.” Sein Tonfall änderte sich. Jetzt dunkler. “Ich hätte das Tagebuch vernichten sollen”, murmelte er. “Ich dachte nicht, dass es jemand finden würde.” Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu, die Finger zuckten in Richtung des Messers. “Ich will dir nicht wehtun”, sagte er. “Aber wenn du versuchst, mich aufzuhalten…”

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Ein Knurren zerriss die Luft. Leise. Donnernd. Und nah. Der Mann blieb mitten im Schritt stehen. Aus den Bäumen hinter Evelyn tauchte der größere Bär auf – die Schultern gebeugt, die Augen auf den Mann gerichtet. Sein Knurren vertiefte sich und vibrierte über den Waldboden.

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Das Gesicht des Mannes erblasste. “Du hast sie hierher gebracht?” Evelyn antwortete nicht. Der Bär machte einen Schritt vorwärts, dann noch einen. Der Mann stolperte zurück, die Augen weit aufgerissen, plötzlich weit weniger zuversichtlich. “Ich gehe”, sagte er schnell und wich mit erhobenen Händen zurück.

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“Das ist es nicht wert.” Er drehte sich um und rannte los, krachte durch das Gebüsch und verschwand in den Bäumen, während die Äste in seinem Kielwasser knackten. Stille kehrte ein. Evelyn atmete zittrig aus, die Knie zitterten. Der Bär stand still und beobachtete die Richtung, in die der Mann geflohen war.

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Sekunden später erschien die Bärenmutter und stürzte sich auf ihr Junges. Ein leises, verzweifeltes Grunzen entrang sich ihr, als sie schnupperte und ihr Baby anstupste, das nun weitgehend frei war. Evelyn kniete sich wieder hin und schnitt das letzte Stück des Netzes ab.

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Das Jungtier befreite sich und stürzte sich direkt auf die Brust seiner Mutter, drückte sich an ihr Fell und wimmerte vor Erleichterung. Die Familie war wieder ganz. Die Bären gingen nicht sofort weg. Einen Moment lang standen sie zusammen auf der Lichtung – die Mutter drückte ihre Schnauze sanft an den Kopf des Jungen, der größere Bär hielt in der Nähe der Bäume Wache.

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Evelyn trat zurück, um ihnen Platz zu machen, ihre Hände zitterten noch immer von der Konfrontation. Das Adrenalin ließ nach und hinterließ nur noch Erschöpfung und eine wachsende Klarheit. Sie hatten ihr vertraut. Und sie hatte gesehen, warum.

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Das Jungtier kuschelte sich an die Brust seiner Mutter, sein leises Wimmern wurde durch ein müdes Grunzen ersetzt. Der größere Bär warf Evelyn einen letzten, langen Blick zu, bevor er sich in die Richtung drehte, aus der sie gekommen waren. Die Bärenmutter folgte ihr, ihre Schritte wurden langsamer, das Jungtier trottete nun neben ihr her.

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Evelyn ging hinter ihnen her. Diesmal führten sie sie nicht – sie gingen mit ihr. Drei Silhouetten schlängelten sich durch den Wald, das goldene Licht des frühen Abends drang durch die Bäume.

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Die Stille zwischen ihnen war nicht schwer, sondern ehrfürchtig, als würde der Wald selbst anerkennen, was soeben geschehen war. Als sie den Waldrand erreichten, kehrten die Geräusche der Stadt zurück – entfernte Autos, leise Stimmen, der Rhythmus des menschlichen Lebens.

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Die Bären blieben am letzten Stück der Bäume stehen, ihre Pfoten berührten gerade die Grenze zwischen Wildnis und Bürgersteig. Evelyn hielt inne und sah sie an. Die Mutter atmete leise aus, und das Jungtier lugte hinter ihren Beinen hervor und blinzelte ein letztes Mal zu Evelyn hinauf.

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Der größere Bär stand still, seine Augen waren unleserlich, aber ruhig. Dann drehten sich die Bären ohne einen Laut um und verschwanden in den Bäumen. Evelyn stand einen langen Moment wie angewurzelt da, das Herz von einem seltsamen Schmerz erfüllt.

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Dankbarkeit. Staunen. Verlust. Dann drehte sie sich um und ging zurück in die Stadt. Auf dem Polizeirevier war es still, als sie ankam, das Tagebuch fest in der Hand. Sie bat darum, mit jemandem von der Wildtierbehörde zu sprechen.

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Ihre Stimme zitterte, aber sie erzählte alles – von den Fallen, dem Jungtier, dem Lagerplatz, dem Mann. Der Ranger, der ihre Aussage aufnahm, blätterte langsam durch das Tagebuch, und sein Gesicht wurde mit jeder Seite härter.

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“Wir suchen schon seit Monaten nach diesem Mann”, sagte er. “Er ist drei Wildhütereinheiten entkommen. Aber wenn Ihre GPS-Daten mit dem übereinstimmen, was hier drin steht, können wir einen Fall aufbauen, der Bestand hat.” Evelyn nickte. “Er ist da draußen. Ich weiß nicht, wie weit er gekommen ist, aber er ist gerannt.” Sie handelten schnell.

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Innerhalb von achtundvierzig Stunden wurde der Wilderer in einem verlassenen Schuppen am Rande der Stadt gefunden. Die Beweise, die Evelyn gesammelt hatte – das Tagebuch, das Netz, das Lager – waren mehr als genug. Er wurde wegen illegalen Fallenstellens, Belästigung von Wildtieren und Besitzes von verbotener Fangausrüstung verhaftet. Evelyn kehrte in dieser Woche nicht mehr in den Wald zurück.

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Das brauchte sie auch nicht. Manchmal dachte sie immer noch an das Jungtier – sein blasses Fell, das in dem sanften Licht leuchtete, seine ängstlichen Augen, die Art, wie es sich an der Seite seiner Mutter vergraben hatte. Sie fragte sich, ob sie noch da draußen waren, tief im Wald, irgendwo weit weg von der menschlichen Reichweite.

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Was sie sicher wusste, war dies: Sie hatten sie gewählt. Und sie hatte sich entschieden, zuzuhören. Nicht jeder bekommt eine zweite Chance, etwas zu tun, das wichtig ist. Aber Evelyn hatte sie. Und es hatte ihr Leben verändert. Für immer.

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