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Die Pfoten des Hundes zerrten in einem unablässigen Rhythmus an der Erde. Sein Körper zitterte vor Erschöpfung, die Rippen zeichneten sich durch sein schmutziges Fell ab, doch er weigerte sich, aufzuhören. Stunde um Stunde, Tag um Tag kehrte das Tier an dieselbe Stelle zurück, getrieben von etwas, das stärker war als Hunger oder Ruhe.

Die Passanten schüttelten den Kopf und tuschelten über den Streuner, der sich offenbar sein eigenes Grab schaufeln wollte. Der Boden war hart, mit Steinen und Wurzeln übersät, aber der Hund krallte sich immer tiefer hinein und ignorierte den Schmerz, der sich in seine rissigen Ballen eingebrannt hatte. Jedes Kratzen der Nägel auf dem Boden schien einen Zweck zu erfüllen, obwohl niemand zu erraten wagte, was dieser Zweck war.

Was konnte eine so unterernährte, müde Kreatur mit unnachgiebiger Besessenheit an denselben Fleck Erde fesseln? Einige fragten sich, ob er jagte, andere fürchteten, er könnte etwas aufdecken, das besser vergraben bleiben sollte. Was auch immer darunter lag, der Hund würde nicht aufhören, bis er es ausgegraben hatte.

Ethan Ward war dreiundzwanzig, ein Austauschstudent, der sich immer noch an den Rhythmus der an den Hügel geschmiegten Stadt gewöhnt. Er war hierher gekommen, um sich weiterzubilden, um einen Abschluss in Umweltwissenschaften zu machen, nachdem er festgestellt hatte, dass das Stadtleben ihn mehr auslaugte als inspirierte. Er sagte sich, dass der Umzug nur vorübergehend sei, aber ein Teil von ihm sehnte sich nach einem Neuanfang.

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Er mietete ein kleines Zimmer über einer Rollladenreparaturwerkstatt und lebte in aller Stille, wobei er die meisten Morgenstunden zu Fuß verbrachte. Jeden Tag ging er auf demselben rissigen Bürgersteig zur Universitätsbibliothek, die Kopfhörer baumelnd, aber nie aufgesetzt, die Gedanken mit Vorlesungen und Terminen beschäftigt. Der Spaziergang verlief ereignislos – bis ihm der Hund auffiel.

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Es war immer derselbe: drahtig, staubfarben, mit schmutzigen Pfoten. Andere Streuner streiften durch die Gassen, aber dieser war auf eine einzige Stelle in der Nähe des Abhangs fixiert und grub mit unermüdlichem Eifer. Von der Morgendämmerung bis zum Einbruch der Dunkelheit kratzte er an der Erde, als ob nichts anderes von Bedeutung wäre.

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Zunächst tat Ethan es als eine Eigenart streunender Hunde ab. Aber die Beharrlichkeit nagte an ihm. Elf Stunden an einem einzigen Tag hatte er ihn arbeiten sehen – das Fell feucht von Schweiß, die Rippen zitternd, die Augen auf den Boden gerichtet wie ein Bergmann, der einen Schatz bewacht. Irgendetwas daran beunruhigte ihn.

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Am Ende der Woche wurde Ethan jedes Mal langsamer, wenn er vorbeikam. Neugierde sickerte in seine Routine ein. Er fragte sich, was ein Tier zu solcher Hartnäckigkeit treiben konnte. Und manchmal, wenn die Augen des Hundes seine trafen, spürte er das leiseste Kribbeln einer Einladung – eine unausgesprochene Aufforderung, sich einzumischen.

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Am späten Nachmittag stellte Ethan fest, dass der Hund seit dem Morgen gegraben hatte. Er war auf dem Weg zum Unterricht an ihm vorbeigegangen, und jetzt – fast elf Stunden später – war das Tier immer noch da. Seine Bewegungen waren langsamer, seine Rippen zitterten bei jedem Atemzug, aber es hatte nicht ein einziges Mal angehalten. Irgendetwas an dieser Hartnäckigkeit nagte an ihm.

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Er hockte sich an den Rand des Abhangs und beobachtete. Die Krallen des Hundes waren völlig abgenutzt. Jedes normale Tier hätte längst aufgegeben, doch dieses schien wie in Trance gefangen zu sein. Ethans erster Gedanke war einfach: Hunger. Es musste verhungert sein.

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Er flüchtete in einen kleinen Laden, kaufte eine Packung Kekse und kehrte zurück. Der Hund versteifte sich, als er sich ihm näherte, aber er lief nicht weg. Ethan brach ein Stück ab und warf es auf den Boden. Das Tier schnupperte einmal daran, dann verschlang es es mit rasender Geschwindigkeit.

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Ein Stück nach dem anderen verschwand, bis das Päckchen weg war. Einen kurzen Moment lang fühlte sich Ethan zufrieden, sogar stolz. “Das war’s”, sagte er leise. “Du bist nur hungrig. Mehr nicht.” Der Hund leckte sich die Schnauze, lehnte sich zurück und sah zu ihm auf. Seine Augen, obwohl von der Erschöpfung getrübt, schimmerten seltsam.

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Dann, ohne Vorwarnung, drehte er sich um und grub weiter. Als ob das Essen nur eine kurze Unterbrechung gewesen wäre, eine Pause, um seine eigentliche Aufgabe zu erfüllen. Die Erde flog in kurzen, verzweifelten Stößen, die Krallen kratzten am Stein, jede Bewegung war von Dringlichkeit geprägt. Ethans Erleichterung verflog und wurde durch ein schleichendes Frösteln ersetzt.

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Was konnte einem hungernden Hund so wichtig sein, dass er elf Stunden damit verbrachte, die Erde aufzureißen? Als Ethan die Raserei seiner Pfoten beobachtete, hatte er das Gefühl, Zeuge von etwas zu sein, das mehr als nur Instinkt war – eher etwas wie Besessenheit. Und zum ersten Mal fragte er sich, ob er die Antwort wissen wollte.

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Das Geräusch der Krallen, die über die Erde schabten, begleitete Ethan in dieser Nacht in seine Träume, und am nächsten Morgen kehrte er fast ohne nachzudenken zurück. Der Hund war wieder da, das Loch jetzt tiefer, die Erde um ihn herum aufgehäuft wie ein Miniaturgrab. Ethan ging in die Hocke, sein Puls beschleunigte sich. Er musste es sehen.

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Der Hund warf ihm einen kurzen Blick zu, dann trat er hechelnd zur Seite. Es war das erste Mal, dass er Platz machte, als würde er ihn stillschweigend einladen, näher zu kommen. Ethan zögerte und starrte in die zerfurchte Grube, bis ihm ein Aufflackern von Farbe ins Auge fiel – etwas Dunkles im Boden, kein Stein, keine Wurzel.

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Er beugte sich vor und strich mit den Fingern eine dünne Schmutzschicht weg. Stoff. Steif, erdfleckig, zerrissen. Sein Magen krampfte sich zusammen. Für einen schrecklichen Moment lieferte sein Verstand Bilder von vergrabener Kleidung, von Kriminalberichten, von Leichen in flachen Gräbern. Seine Hände wurden kalt und er erstarrte an Ort und Stelle.

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Der Hund bellte scharf, umkreiste ihn und trieb ihn an. Ethan schluckte schwer, schob den Schmutz beiseite, bis mehr Stoff zum Vorschein kam, dann die harte Kante von etwas Festem darunter. Eine Tasche. Abgenutzt, verwittert, die Nähte dehnten sich, als hätte die Erde selbst an ihr genagt.

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Das Tier stürzte sich darauf, seine Zähne bohrten sich in das Segeltuch und zerrten daran, bis sich die Tasche mit einem dumpfen Aufprall löste. Etwas Metallisches klirrte darin. Ethans Atem stockte erneut, Angst und Neugierde prallten aufeinander. Was auch immer den Hund elf unerbittliche Stunden lang angetrieben hatte, lag versiegelt in diesem vergessenen Bündel.

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Ethan lehnte sich auf seinen Fersen zurück und starrte auf die verbeulte Tasche im Dreck. Sein erster Instinkt war, es dabei zu belassen, wegzugehen und so zu tun, als hätte er nichts gesehen. Doch der Hund ließ ihn nicht. Er krallte sich an der Plane fest, heulte und fletschte die Zähne, als wollte er sie zerreißen.

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“Schon gut, schon gut”, murmelte Ethan und zog die Tasche näher heran, bevor das Tier sie ganz zerfetzte. Er riss die zerrissene Klappe auf. Der abgestandene Geruch von feuchtem Stoff und rostigem Metall strömte heraus – zusammen mit einem schwachen, sauren Fischgeruch. Im Inneren sah er eine halb aufgeschnittene Thunfischdose, die durch den verbeulten Rand leckte.

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Aber noch etwas anderes stach ihm ins Auge. An die Dose geklemmt war ein verblichenes Kauspielzeug in Form eines Knochens, dessen einst heller Stoff durch das Alter nachgedunkelt war. Der Thunfisch war in ihn hineingesickert und hatte ihm einen stechenden Geruch verliehen. Ethan leerte die Tüte schnell aus und legte den Inhalt auf die Erde, damit der Hund ihn nicht zerstören konnte.

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Zu seiner Überraschung stürzte sich das Tier nicht auf den Thunfisch, sondern auf das Spielzeug. Es schnappte sich den Stoffknochen und trug ihn ein paar Meter weit weg, wobei es schwach mit dem Schwanz wedelte, als hätte es etwas Wertvolles gefunden, das es die ganze Zeit gesucht hatte. Ethan blinzelte verblüfft.

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Er wandte sich wieder dem Rest des Inhalts zu: Stofffetzen, brüchiges Papier, verrosteter Krimskrams. Und dann sah er sie. Ein Schlüssel mit einem angeschlagenen Messingkopf, an dem ein mit einer Adresse bekritzeltes Schild befestigt war. Daneben ein halb zerrissenes Foto, das ein eng beieinander stehendes Paar zeigte, dessen Gesichter von Wärme und Sonnenlicht erhellt wurden.

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Ethan hielt den Schlüssel zwischen seinen Fingern und las die schwache, verschmierte Adresse. Die Buchstaben passten zu keiner ihm bekannten Adresse in der Stadt. Er spürte, wie sich das Gewicht des Schlüssels in ihm festsetzte, schwerer als die Tasche selbst. Das war nicht einfach nur Schrott. Das waren Brotkrümel – zurückgelassen von jemandem, der diesen Ort einmal sein Zuhause genannt hatte.

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Der Hund grub nicht mehr. Mit dem Stoffknochen im Maul legte er sich neben dem Loch nieder und schlug müde mit dem Schwanz. Seine Augen, die tagelang mit einem seltsamen Feuer gebrannt hatten, schienen jetzt ruhiger zu sein. Als wäre die Suche in dem Moment zu Ende gewesen, als das Spielzeug auftauchte.

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Ethan hockte sich daneben und betrachtete stirnrunzelnd die unangetastete Thunfischdose, die noch immer auf dem Boden leckte. Er hob sie vorsichtig auf und warf sie in einen nahe gelegenen Mülleimer, da er nicht wollte, dass der Hund seine Gesundheit durch verdorbenes Essen riskierte. Stattdessen legte er eine kleine Tüte mit Keksen und eine Schale mit Wasser hin, die er aus dem Laden an der Ecke geholt hatte.

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Das Tier rührte sich kaum, stupste nur das Spielzeug mit der Nase an und schloss die Augen. Ethan betrachtete die Szene – diesen seltsamen, mit Schmutz bedeckten Wächter, der endlich zur Ruhe gekommen war – und fühlte ein Gefühl der Verantwortung. Was auch immer ihn dazu gebracht hatte, elf Stunden lang zu graben, seine Aufgabe schien beendet. Seine jedoch begann gerade erst.

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Er drehte den Schlüssel in seiner Hand und las erneut das verblasste Schild. Eine mit ungleichmäßiger Tinte hingekritzelte Adresse: 25 Riverside Street. Ethan murmelte die Worte vor sich hin und versuchte, sie einzuordnen. Er kannte sich in der Stadt nicht gut genug aus, um genau zu wissen, wo das Haus lag, aber er beschloss, es herauszufinden.

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Ethan steckte den Schlüssel und das halb zerrissene Foto des Paares ein, erhob sich, rückte seinen Rucksack zurecht und machte sich auf den Weg den Hügel hinunter. Die Neugier drängte ihn vorwärts, und jeder Schritt war mit Fragen belastet, auf die es keine einfachen Antworten gab. Irgendwo in dieser Stadt – oder dem, was von ihr übrig war – lag die Wahrheit.

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Ethan folgte den Straßen am Hang, während ihm die Adresse im Kopf herumging: 25 Riverside Street. Ein Riverside war ihm noch nie aufgefallen, aber er hatte auch noch nicht viel über den Campus und sein gemietetes Zimmer hinaus erkundet. Die Straßen schlängelten sich eng und uneben, einige gingen in unbefestigte Wege über, die von der Zeit vergessen schienen.

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Er überprüfte die Nummern, während er ging – Riverside Street 12, 14, dann 18. Sein Puls beschleunigte sich. Er kam immer näher. Doch dann endeten die Häuser abrupt an der Straße 20. Dahinter machte die Straße eine scharfe Kurve zum bewaldeten Hang hinauf, keine Anzeichen für neue Häuser, nur zerbrochene Steinmauern und überwuchertes Unkraut.

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Ethan runzelte die Stirn und ging seine Schritte zurück, um sicherzugehen, dass er keine Abzweigung verpasst hatte. Er umrundete das Gebiet zweimal und suchte nach einer anderen Spur oder einer versteckten Einfahrt. Doch nichts. Die Riverside blieb einfach stehen, wo sie stand. Keine Nummer 25. Kein Hinweis darauf, dass dort jemals etwas gewesen war.

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Das Foto in seiner Tasche schien jetzt schwerer zu sein. Die Gesichter des Paares lächelten ihm aus der Erinnerung entgegen, aber die Adresse unter dem Schlüssel zog ihn ins Leere. Ein Verdacht nagte an ihm: War das Schild ein Fehler? Oder schlimmer noch, ein grausamer Scherz, der zurückgelassen wurde, um denjenigen in die Irre zu führen, der über ihn stolpern könnte?

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Er verweilte am Rand der Straße und starrte auf den ungebrochenen Hang vor ihm. Die Verwirrung drückte mit jedem Augenblick auf ihn. Er hatte die Adresse, er hatte den Schlüssel – aber es gab kein Haus, keine Tür, nichts, was zu dem passte, was er in der Hand hielt.

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Ethan ging zweimal die Riverside entlang, den Schlüssel in der Hand, aber jedes Mal endete die Straße an der gleichen abrupten Kurve. Es gab kein Zeichen von Street 25, keine versteckte Abzweigung oder schmale Gasse, die er hätte übersehen können. Die Adresse zerrte an ihm, unmöglich und hartnäckig.

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Er hielt eine Passantin an, eine ältere Frau, die Lebensmittel einkaufte. “Das ist doch die Riverside Street, oder?”, fragte er und versuchte, lässig zu klingen. Sie nickte ohne zu zögern, zeigte sogar die Häuserreihe hinunter. “Riverside, ja. Die Nummern halten dort oben um zwanzig. Sie sind jetzt am Ende der Reihe.”

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Ihre Gewissheit vertiefte seine Verwirrung nur noch mehr. Ethan dankte ihr, aber seine Gedanken rasten, als er sich wieder dem Abhang zuwandte. Die Adresse war kein Fehler – er hatte sie schon ein Dutzend Mal gelesen. Und doch existierte sie einfach nicht. Er verweilte dort und starrte auf den leeren Raum, wo etwas hätte sein sollen, und fragte sich, was einen ganzen Ort spurlos auslöschen konnte.

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Auf dem Rückweg durch die Stadt hielt er einen Lieferwagenfahrer an, dann ein paar Schulkinder, die ihm jedes Mal die gleiche Frage stellten: Riverside Street, Nummer fünfundzwanzig. Jede Antwort war die gleiche – verwirrte Blicke, höfliches Achselzucken, sogar das eine oder andere Lachen, das andeutete, dass er den falschen Ort hatte.

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Frustration machte sich in ihm breit. Er zeigte einmal das Adressschild, in der Hoffnung, dass er es erkennen würde, aber es erntete nur ein weiteres Kopfschütteln. Mit jeder Ablehnung wurden die Zweifel größer, bis er das Gefühl hatte, einem Ort nachzujagen, den es gar nicht gab.

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Schließlich sprach er einen älteren Mann an, der vor einem Friseursalon saß und seinen Stock auf sein Bein gestützt hatte. Ethan wiederholte die Adresse. Der Blick des alten Mannes wurde schärfer, seine Lippen zogen sich zu einer dünnen Linie zusammen, bevor er seufzte. “Riverside fünfundzwanzig”, sagte er leise. “Seit fünfzig Jahren hat es kein fünfundzwanzig mehr gegeben.”

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Ethan runzelte die Stirn. “Was meinen Sie?” Der Mann klopfte mit seinem Stock auf den Boden. “Ein Erdrutsch hat es mitgenommen. Eine ganze Reihe von Häusern ist in einer einzigen Nacht verschwunden. Nichts mehr übrig außer Erde und Stein. Du stehst am Ende von dem, was übrig geblieben ist.”

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Ethan verließ den Friseurladen wie betäubt. Die Worte des alten Mannes gingen ihm nicht aus dem Kopf – eine ganze Reihe von Häusern, die von einem Erdrutsch verschluckt wurden und in einer einzigen Nacht verschwunden waren. Er blickte wieder auf den Schlüssel und das Foto in seiner Tasche. Wie konnte etwas so Gewöhnliches etwas so Endgültiges überdauern?

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Am Ende der Riverside stand er und starrte auf den Hang, an dem die Straße endete, und versuchte sich vorzustellen, was dort einmal gestanden hatte. Familien, Häuser, Leben – jetzt ausgelöscht. Das Lächeln auf dem Foto wirkte fast spöttisch, als würde es ihn herausfordern, die fehlende Hälfte der Geschichte zu ergänzen.

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Er drehte den Schlüssel in der Hand, das kalte Messing erwärmte sich an seiner Handfläche. Die Adresse war noch immer eingraviert, hartnäckig und echt, und doch zeigte sie auf einen Ort, den es nicht mehr gab. Dieser Widerspruch saß schwer in ihm und verlangte nach Antworten. Ethan wusste eines: Wenn er verstehen wollte, worüber er gestolpert war, musste er tiefer blicken.

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Das Rätsel war noch nicht gelöst, noch lange nicht. Am nächsten Morgen fand sich Ethan in der Stadtbibliothek wieder. Ethan fragte nach Riverside, und der Angestellte wies ihm den Weg zu den Archiven. Bald blätterte er in brüchigen Zeitungen, deren Schlagzeilen verschwammen, bis eine ihn erstarren ließ: “Erdrutsch zerstört Häuser in Riverside”

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Das Foto darunter zeigte Trümmer und zerbrochene Balken, die über den Hang verstreut waren. In Decken eingewickelte Familien kauerten aneinander, die Gesichter waren durch den schlechten Druck unscharf. Ethans Augen verweilten auf ihnen, suchten nach etwas Vertrautem. Er verfolgte jedes Wort, jeden verwischten Namen, aber der Artikel endete mit kaum mehr als Zahlen – verlorene Häuser, vertriebene Menschen.

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Er lehnte sich verunsichert in seinem Stuhl zurück. Der Schlüssel in seiner Tasche fühlte sich plötzlich schwerer an, die Adresse ein Gespenst, das an ein Ereignis gebunden war, das die meisten bereits vergessen hatten. Das zerrissene Foto des Paares gab ihm keine Antworten, sondern nur Fragen, die immer drängender wurden, je länger er darauf starrte. Irgendwo in diesen Archiven, spürte Ethan, lagen die fehlenden Fäden. Er musste sie nur finden.

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Stunden vergingen im stillen Summen der Bibliothek. Ethan wühlte sich durch brüchige Zeitungsausschnitte und halb verblasste Berichte, die alle dieselbe Geschichte wiederholten: ein plötzlicher Erdrutsch, verschüttete Häuser, verstreute Familien. Die Namen verschwammen ineinander, bis seine Augen schmerzten, doch er zwang sich, weiterzulesen.

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Am unteren Rand einer brüchigen Seite blieb Ethans Blick an einer verblassten Spalte hängen, in der die Haushalte entlang der Riverside Street aufgelistet waren. Die Schrift war verschmiert, die Zahlen ungleichmäßig, aber eine Zeile stach ihm ins Auge: 25 Riverside. Seine Finger krampften sich um den Schlüsselanhänger in seiner Tasche – dieselbe Adresse, in Messing eingraviert.

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Neben der Nummer stand ein Nachname: Blackwood. Ethan schrieb ihn sorgfältig in sein Notizbuch ab und umkreiste ihn zweimal. Auf der Seite stand nichts weiter – kein Hinweis darauf, was aus der Familie geworden war, keine Andeutung von Überleben oder Verlust. Nur ein Name, verankert in einer Adresse, die nicht mehr existierte.

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Er starrte auf das Wort, bis die Tinte in seinem Blickfeld verschwamm. Zum ersten Mal, seit er die Tasche ausgegraben hatte, spürte er, dass er gegen etwas Reales stieß. Doch je näher er einer Antwort kam, desto mehr Fragen tauchten auf, schwer und hartnäckig.

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Als Ethan die Bibliothek verließ, hatte er den Namen in seinem Notizbuch eingekreist: Blackwood. Er fühlte sich zerbrechlich an, wie ein Faden, der reißen könnte, wenn er zu stark daran zog, aber es war die einzige Richtung, die er hatte. Als er durch die Stadt ging, ertappte er sich dabei, wie er auf Ladenschilder und Briefkästen schaute und den Namen suchte, als ob er zufällig auftauchen würde.

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In einem Eckcafé fragte er die Barista, ob sie irgendwelche Blackwood-Familien in der Nähe kenne. Sie schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn, als würde sie in ihrem Gedächtnis nachforschen. Ein älterer Mann, der am Nebentisch an seinem Kaffee nippte, meldete sich zu Wort und sagte, der Name klinge vertraut, aber alt – wie etwas aus den Geschichten seiner Eltern.

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Ethan suchte weiter und hielt erst bei der Post, dann bei einem Eisenwarenladen. Jedes Mal erhielt er die gleiche Antwort: Unsicherheit, vage Erinnerung oder höfliche Ablehnung. Der Name war zum Greifen nah, nah genug, um ihn zu schmecken, aber nicht nah genug, um ihn zu berühren.

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In der Abenddämmerung fand er sich auf der Riverside Street wieder, das Notizbuch in der Hand, den Schlüssel schwer in der Tasche. Er flüsterte den Namen unter seinem Atem – Blackwood – als ob er damit jemanden heraufbeschwören könnte, irgendjemanden, der sich noch daran erinnerte.

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Am dritten Abend war Ethans Entschlossenheit geschwunden. Er war in der Stadt im Kreis gelaufen, die Seiten seines Notizbuchs waren mit Fragezeichen und halben Antworten gefüllt, und jede Anfrage über die Familie Blackwood endete auf dieselbe Weise: Verwirrung, höfliches Schulterzucken oder vage Erinnerungen, die zu nichts führten.

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Als die Dämmerung hereinbrach, setzte er sich auf eine Bank in der Nähe des Platzes und überlegte, ob er die Suche aufgeben sollte. Vielleicht gehörte der Name niemandem mehr, war von demselben Hügel verschluckt worden, der die Häuser ausgelöscht hatte. Er seufzte und schloss sein Notizbuch mit einem müden Schnappen.

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“Entschuldigen Sie”, sagte eine Stimme. Ethan blickte auf und sah eine Frau in den Sechzigern, die eine Einkaufstasche auf ihrem Arm zurechtrückte. “Ich habe zufällig mitgehört. Sie haben sich nach den Blackwoods erkundigt?” Sein Herz schlug heftig. Er nickte schnell, die Worte blieben ihm im Hals stecken.

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Die Frau musterte ihn einen Moment lang, dann nickte sie ebenfalls langsam. “Ich erinnere mich an diese Familie. Riverside Street, vor langer Zeit. Sie haben nicht Unrecht, wenn Sie nachschauen – aber die meisten Leute reden nicht mehr über sie.”

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Die Frau schob ihre Tasche höher auf den Arm, ihr Blick war nachdenklich. “Die Blackwoods wohnten am anderen Ende von Riverside, genau dort, wo der Hang abbrach. In der Nacht des Erdrutsches … die meisten von ihnen haben es nicht geschafft.” Sie zögerte, ihre Stimme wurde leiser. “Nur der Junge hat überlebt. Er wurde danach in ein Pflegeheim geschickt.”

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Ethan umklammerte das Notizbuch fester, das zerrissene Foto brannte in seiner Tasche. “Wissen Sie, was danach mit ihm geschah?”, fragte er. Sie nickte leicht. “Er war viele Jahre lang weg. Aber ich habe gehört, dass er vor etwa einem Jahrzehnt zurückgekehrt ist.

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Er wohnt jetzt in einem kleinen Haus am Rande der Stadt. Er bleibt für sich, ist nicht sehr gesprächig.” Ihr Blick wanderte zu Ethan, als wäge sie ab, ob sie noch mehr sagen sollte. “Wenn du nach Antworten suchst… wirst du sie wahrscheinlich bei ihm finden.”

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Die Wegbeschreibung war einfach genug, obwohl Ethans Herz mit jedem Schritt härter pochte. Die Worte der Frau hallten in seinen Ohren wider – der Junge war der Einzige, der überlebt hatte. Jetzt, Jahrzehnte später, ging er einem Leben entgegen, das er aus Ruinen wieder aufgebaut hatte.

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Am Rande der Stadt fand er das Haus. Es war klein, verwittert, die Farbe verblasst, aber der Garten war ordentlich, jede Pflanze mit ruhiger Sorgfalt gestutzt. Ein Vorhang am Fenster bewegte sich leise, und einen Moment lang fragte sich Ethan, ob er bereits beobachtet wurde.

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Am Tor blieb er stehen und holte den Schlüssel und das Foto aus seiner Tasche. Das Messing glitzerte schwach im schwindenden Licht, und das Lächeln des Paares starrte zurück. Er drückte beides fest in die Hand und holte tief Luft. Dann, bevor ihn der Zweifel packen konnte, stieß Ethan das Tor auf, ging den Weg hinauf und klopfte.

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Das Klopfen hallte dumpf gegen die Holztür. Eine ganze Weile rührte sich nichts. Ethan verlagerte sein Gewicht und fragte sich, ob die Frau sich geirrt hatte, ob hier wirklich niemand lebte. Dann kam das langsame Ziehen von Schritten, unregelmäßig, zögernd, als ob sie gegen ihren Willen vorwärts gezogen würden.

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Die Tür öffnete sich einen Spalt und gab den Blick auf einen alten Mann mit eingefallenen Augen und einem faltigen Gesicht frei. Seine Schultern waren gebeugt, seine Stimme war dünn, als er schließlich sprach. “Was wollen Sie?” Es lag keine Feindseligkeit in seinen Worten, nur eine müde Traurigkeit, wie bei jemandem, der in einem Leben voller Verluste zu viele Fragen beantwortet hatte.

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Ethan schluckte, die Nerven zerrten an seiner Kehle. Das Foto zitterte in seiner Hand, halb versteckt, das Gewicht des Schlüssels drückte gegen seine Handfläche. Er hatte nicht erwartet, dass der Mann so zerbrechlich, so abgenutzt aussehen würde, und doch fühlte sich der Moment aufgeladen an, als hätte ihn alles hierher geführt.

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Langsam holte er das zerrissene Bild aus der Tasche und hielt es mit beiden Händen hin. “Ich glaube, das gehört Ihnen”, sagte er leise. Dem alten Mann stockte der Atem, als sich sein Blick auf das verblichene Bild eines Paares richtete, dessen Gesichter von Falten und Zeit aufgeweicht waren.

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Einen Moment lang bewegte er sich nicht, sondern starrte nur vor sich hin, als hätte die Welt aufgehört, sich zu drehen. Dann überschlug sich seine Stimme. “Das sind sie… meine Eltern.” Er umklammerte das Foto fest und seine Schultern zitterten. “Das habe ich nicht mehr gesehen seit… Gott, seit einem halben Leben.”

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Ethan öffnete die Tasche weiter und zeigte den angeschlagenen Schlüssel und Stofffetzen. Der Mann presste eine Hand an den Türrahmen, die Knie drohten nachzugeben. “Ich habe diese Tasche überallhin mitgenommen”, murmelte er mit zitternder Stimme. “Sie war alles, was ich noch hatte.

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Dann, eines Nachts, wurde sie gestohlen. Räuber nahmen sie mit, und ich dachte, ich hätte sie für immer verloren.” Seine Worte gerieten ins Stocken, aber sein Griff um das Foto seiner Eltern wurde noch fester. “Und jetzt hast du es mir zurückgebracht.”

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Er ließ sich auf einen Stuhl an der Tür sinken und starrte das Bild an, als sähe er fleischgewordene Geister. “Du weißt nicht, was das bedeutet”, flüsterte er. “Diese Fetzen … dieser Schlüssel … dieses Foto. Sie sind mehr als nur Gegenstände.

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Sie sind meine Familie. Meine Erinnerungen. Meine Vergangenheit. Ich dachte, ich würde sie nie wieder berühren.” Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das sowohl von Trauer als auch von Dankbarkeit geprägt war. “Du hast mir ein Stück von mir selbst zurückgegeben.”

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Ethan verweilte schweigend, die Kehle war eng. Er hatte nie bedacht, wie viel Gewicht eine kleine, vergessene Tasche haben konnte. Aber hier, in diesem verwitterten Haus am Rande der Stadt, erkannte er die Wahrheit: Manchmal ist nicht das Überleben das Wichtigste, sondern die Erinnerung daran.

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In den folgenden Tagen kehrte Ethan oft zurück. Der alte Mann hieß ihn herzlich willkommen, wobei er das Foto immer in der Nähe platzierte, als sei es ein Ehrengast. Sie tranken gemeinsam Tee aus zerbrochenen Tassen, der Mann erzählte Bruchstücke aus einem Leben, das durch den Verlust unterbrochen worden war, und Ethan hörte zu, lernte und trug diese Geschichten mit sich, als gehörten sie auch ihm.

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Die Nachricht, was Ethan getan hatte, verbreitete sich leise in der Stadt. Nachbarn hielten ihn auf der Straße an, nickten ihm respektvoll zu oder sagten ein freundliches Wort. Zuerst verunsicherte ihn die Aufmerksamkeit – er hatte sie nie gesucht -, aber langsam verwurzelte sie ihn. Er war nicht mehr nur ein Neuankömmling mit einem gemieteten Zimmer über einem Laden. Er war jetzt ein Teil des Ortes, verbunden mit seiner Geschichte, verwoben mit seiner Erinnerung.

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Eines Abends, als Ethan das Haus des alten Mannes verließ und der Sonnenuntergang die Hügel golden färbte, hielt er am Tor inne. Drinnen saß der Mann am Fenster, das Foto sorgfältig neben sich aufgestützt, den Messingschlüssel in der Hand.

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Er hielt ihn nicht als Gegenstand, sondern als Beweis dafür, dass etwas, das er einmal verloren hatte, zurückkehren konnte. Ethan atmete die kühle Luft ein und lächelte leise. Er fühlte sich nicht mehr wie ein Außenseiter, der sich durch unbekannte Straßen treiben ließ.

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Die Stadt hatte sich ihm geöffnet, Stück für Stück, bis ihre Geschichte zu seiner eigenen geworden war. Was mit dem verzweifelten Graben eines Hundes begann, endete damit, dass Erinnerungen wiederhergestellt wurden – und dass Ethan einen Ort entdeckte, an den er endlich gehörte.

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